Bahnmisere hier und überall – Gedanken zum Schienenverkehr mit Text von Winfried Wolf

Winfried Wolf auf einer Kundgebung gegen Stuttgart 21, das auch Auswirkungen auf die Finanzierung des regionalen Verkehrs in BW hat.

Als Kreisrat im Landkreis Heilbronn, Gemeinderat in Weinsberg und Bahnkunde habe ich die letzten Jahre politisch und praktisch die Probleme im Schienenverkehr erlebt.

Beispiele der jüngsten Zeit: Stadtbahn von Weinsberg nach Öhringen fällt (24.5.2023) aus, weil das Stellwerk in Öhringen teilweise defekt ist. ICE von Stuttgart nach Berlin kommt nicht und fällt aus, weil das Stellwerk in Ulm ausgefallen ist. In Lauffen ist das Stellwerk ebenfalls sanierungsbedürftig, die Bahn AG will die Kosten bei einer möglichen Reaktivierung der Zabergäubahn auf die Kommunen und den Landkreis übertragen. 
Beim Frankenbahngipfel im Mai 2023 in Möckmühl werden die Landräte aus dem Main-Tauber-Kreis und dem Neckar-Odenwald-Kreis deutlich: die Infrastruktur der Strecken zwischen Heilbronn und Würzburg wurde über Jahrzehnte runtergefahren, inzwischen gibt es große Schwierigkeiten den Verkehr über die Strecke zu bringen, von einem Ausbau des Personen- und Güterverkehrs ganz zu schweigen. Immerhin sollen nun Maßnahmenpakete in Angriff genommen werden. Der Heilbronner Landrat hofft auf das schnelle Umsetzen des ersten Sanierungspakets. Hier hilft sicher, wenn politisch weiter Aufmerksamkeit auf die Strecke erzeugt wird.
 
Die Erfahrungen sind banal und kennen viele Bahnfahrende. Aber wieso ist das so? Wer bremst hier eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit Mobilität?
 

Um die Entwicklung zu verstehen gab es beim Frankenbahngipfel einen ersten Hinweis des politischen Staatssekretärs im Bundesverkehrsministeriums Michael Theurer (FDP): Die Bahn AG ist ebene eine Aktiengesellschaft und untersteht daher dem Aktienrecht. Eine Ausrichtung nach dem Gemeinwohlprinzip, also für die Bevölkerung und die Umwelt und jenseits der reinen Profitlogik sei so nicht möglich.
Dem steht entgegen, dass im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht, dass Service und Infrastruktur der DB in einer Tochter, die dem Gemeinwohl dienen soll, zusammengefasst werden soll. Dann ging ja doch was jenseits der Aktienausschüttung. Hier ist sicher ein politischer Ansatz, um die Bahn wieder auf die richtige Schiene zu setzen. Es bleibt aber die Forderung, die Bahn AG als Ganzes wieder dem Aktienrecht zu entziehen.
 
Aber wieso wurde die Bahn zum Aktienunternehmen? Ein eben verstorbener Verkehrspolitiker, Winfried Wolf, der von 1994 bis 2002 für die PDS im Bundestags saß und dort verkehrspolitischer Sprecher war, kämpfte gegen den Aktiengang der Bahn.
Bei ihm sind die Gründe gegen die Aktienbahn aufgeführt, die auch Aufschluss geben für die heutige Misere:

„Situation in Deutschland

Eine knappe Skizze zur Lage der Eisenbahn in Deutschland. Grundsätzlich läuft es bei uns ziemlich genau nach dem Schema der dargestellten zehn Grundelemente. Doch es läuft nicht glatt.

1994 gab es die „Bahnreform“; die bereits genannte Umwandlung der Staatsbahnen in die DB als Aktiengesellschaft. Bei 100 Prozent Staatsanteil an der AG. …(Der anschließend geplante Börsengang entfiel aufgrund der Finanzkrise 2008 und des gesellschaftlichen Widerstands.)…

Dennoch gibt es bei der Schiene in Deutschland seit 1994 eine massive Transformation. Sie lässt sich in drei Punkten zusammenfassen.

Erstens gibt es inzwischen im Schienenpersonennahverkehr einen Anteil der privaten Betreiber von gut 40 Prozent. Gleichzeitig haben private Betreiber im Schienengüterverkehr einen Anteil von 45 Prozent erreicht. Groteskerweise sind diese „privaten“ Betreiber oft Töchter der noch staatlichen Nachbareisenbahnen (also mit Netinera, der FS-Tochter, mit Keolis der SNCF-Tochter oder mit SBB Cargo der Tochter der schweizerischen Bahn).

Zweitens macht die DB AG inzwischen die Hälfte ihres Umsatzes im Ausland. Gleichzeitig wird die Hälfte des Umsatzes im bahnfremden Bereich (u.a. mit Schiffen, Lkw und Flugverkehr) erzielt. Wobei es sich überschneidende Schnittmengen gibt.11

Die Investitionspolitik der DB ist eine Art „verlängerte Außenpolitik“ der deutschen Regierung. So investiert die DB viel im Nahen und Mittleren Osten (u.a. in Saudi Arabien, Katar, Kuweit). Kapital aus diesen Ländern ist massiv in deutschen Konzernen (VW, Daimler) und Banken (Deutsche Bank) angelegt. Eine Hand wäscht also die andere.

Drittens wurde die bisherige führende Position der DB im Fernverkehr durch die 2015 erfolgte Liberalisierung der Fernbus-Verkehre gebrochen.

Bilanz: Der objektive Prozess der Bahnprivatisierung ist auch in Deutschland, trotz noch 100-prozentigem Anteil des Bundes an der DB AG, weit vorangeschritten. Und er schreitet weiter voran – das aktuelle Spitzenduo Richard Lutz (neuer Bahnchef und alter und neuer Finanzchef) und Ronald Pofalla (Infrastruktur-Chef) sind reine Bürokraten mit nachgewiesenem Interesse an einem neuen Börsen-Gang (oder dem Hereinholen von privaten „Investoren“).

Parallel setzt sich vor allem der zerstörerische Prozess bei der Infrastruktur fort. Aktuell diskutieren auch wir vom Bündnis Bahn für Alle, ob jetzt die Forderung nach einer Herauslösung der Infrastruktur (zusammen mit Bahnhöfen, Energiebereich und Instandhaltung) und deren Unterstellung unter eine direkte staatliche Kontrolle nicht eine richtige Forderung ist. Als Schutzmaßnahme – bei Beibehaltung der grundsätzlichen Forderung nach einer integrierten Bahn in direktem öffentlichem Eigentum.

***

Bilanz und Schlussfolgerungen

  1. Der Angriff auf die bestehenden, weitgehend noch staatlichen Eisenbahngesellschaften im Europa ist das Ergebnis der kapitalistischen Krise. Die Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals sind Triebkraft dafür, dass der gesamte noch-öffentliche Sektor der Kontrolle des Kapitals und dem privaten Profit unterworfen werden soll. Dieser Angriff ist darüber hinaus im Besonderen Resultat eines Kapitalismus, der in starkem Maß von Öl, Auto und Luftfahrtinteressen – verbunden mit der Finanzindustrie – bestimmt wird.
  2. Die deutliche Mehrheit in den Bevölkerungen Europas ist heute gegen Privatisierungen des öffentlichen Eigentums eingestellt. Die Erkenntnis, dass „Privatisierung“ in sehr direktem Sinn mit dem lateinischen Wort „privare = berauben“ zu tun hat, setzt sich zunehmend durch. Die Mehrheit in der Bevölkerung fordert eine integrierte Eisenbahn in öffentlichem Eigentum und mit einer sozialen und ökologischen Verpflichtung. Die Forderung nach einer solchen „Ferrovie Pubblica e Sociale“ stellt sich ganz besonders als Resultat der menschengemachten Klimaerwärmung und der vertraglichen Bestimmungen, die aus den Klimakonferenzen, zuletzt aus der Klimakonferenz in Paris Ende 2015, resultieren.

Im übrigen müsste die Forderung nicht lauten „Re-Nationalisierung“, sondern korrekterweise „zweite Nationalisierung“. Schließlich waren in Europa alle Eisenbahnen in der Gründungszeit um 1825ff private Eisenbahnen gewesen. Diese mussten Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20.l Jahrhunderts nationalisiert werden, weil sie auch aus bürgerlicher Sicht den an sie gestellten gesamtgesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht wurden. In Italien kam es diese erste Nationalisierung 1870 und1905.12 In jüngerer Zeit – ab den 1990er Jahren – erlebten wir hier eine Rolle rückwärts – zurück ins erste Drittel des vorletzten Jahrhunderts. Und erneut erweist sich, dass diese privaten neuen Eisenbahnen bzw. die im Privatisierungsprozess befindlichen Eisenbahnen den sozialen und ökologischen Anforderungen der Gesellschaft nicht gerecht werden. Daher ist zu fordern: Sofortige Beendigung der für die Gesellschaft extrem teuren Bahnprivatisierung – Durchführung einer zweiten Nationalisierung, wobei wir Lehren aus den Fehlern der starren und hierarchischen Staatsbahnen aus der Zeit vor 1990 ziehen müssen.““

Mehr zur Bahnmisere von Winfried Wolf hier

Einleitender Text von Florian Vollert


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